„Trauer ist Liebe“
Besuch des Bestattungshauses Pütz-Roth in Bergisch Gladbach
Am 3. Mai 2017 fuhr eine Gruppe von 19 Ehrenamtlichen in Begleitung von Professor König und seiner Frau sowie Frau Guntermann nach Bergisch Gladbach, um das Bestattungshaus Pütz-Roth kennenzulernen.
Schon die Lage des Unternehmens und die Gebäude waren ungewöhnlich und machten uns neugierig, mehr zu erfahren. Herr Gill, der Mitgeschäftsführer nahm sich die Zeit, uns die Historie und Philosophie des Unternehmens vorzustellen und bei einem Rundgang die besonderen Einrichtungen des Hauses und des Gartens zu erläutern.
Fritz Roth, der inzwischen verstorbene Firmengründer, begann seine Tätigkeit als Bestatter Anfang der achtziger Jahre. Er beobachtete bei den üblichen Dienstleistern in seiner Branche die Tendenz, den Hinterbliebenen einen Rundumservice anzubieten, der den Betroffenen alle Arbeit abnahm, ihnen aber auch den Verstorbenen „wegnahm“. Kaum war der Bestatter informiert, wurde der Leichnam abgeholt. Entweder sahen die Angehörigen ihn nicht wieder oder in der Leichenhalle eines Friedhofes im Rahmen enger Besuchszeiten. Das hatte zur Folge, dass die Hinterbliebenen, die sich ohnehin im Ausnahmezustand befanden, keine Gelegenheit hatten, sich in Ruhe von dem Toten zu verabschieden und sich darüber klar zu werden, wie, wo und wann die Beisetzung stattfinden soll. Zudem gab es oft engherzige gesetzliche Bestimmungen oder auch behördliche Vorgaben, die es den Angehörigen praktisch unmöglich machten, individuelle Vorstellungen und Wünsche durchzusetzen.
Oft kam bei den Angehörigen nach einer Zeit der Besinnung das Gefühl auf, dass man dem lieben Verstorbenen mit dieser Art der Bestattung nicht gerecht geworden ist. Man hätte ihm gern einen letzten Liebesdienst erwiesen, ist es ihm aber schuldig geblieben. Diese Erkenntnis tut weh und kann die Hinterbliebenen lange belasten. Auch haben viele Angehörige gespürt, dass sie selbst die Chance versäumt haben, sich mit den Fragen von Tod und Abschied im Angesicht des Verstorbenen zu befassen. Dies hätte ihnen helfen können, den Tod zu akzeptieren und nach der Zeit der tiefen Trauer ihren Weg ins Leben zurückzufinden.
Fritz Roth, der in einem Dorf im Bergischen Land aufgewachsen war, kannte eine andere Kultur der Bestattung. Dort war es üblich, dass der Bestatter die Familie des Verstorbenen besuchte. Gemeinsam wurde der Leichnam hergerichtet: gewaschen, gekleidet und eingesargt. Dann verblieb der Tote noch ein oder zwei Tage im Haus, so dass die Familie, Freunde und Nachbarn gemeinsam trauern und Abschied nehmen konnten. Es wurden Geschichten aus dem Leben des Toten erzählt, gemeinsam geweint, aber auch gelacht. Ein Leichenschmaus und ein Schnaps durften nicht fehlen. So erlebten die Hinterbliebenen, dass sie nach wie vor Teil der Gemeinschaft waren. Gleichsam war diese Totenfeier der erste, von der Gemeinschaft liebevoll begleitete Schritt in das künftige Leben ohne den Verstorbenen.
Nach der Überzeugung von Fritz Roth hatte die überkommene Art, sich mit dem Verstorbenen zu befassen, zwei Aspekte, die er für seine Arbeit für unverzichtbar hielt: Trauer braucht Zeit und Raum. Eine weitere Grundüberzeugung war, dass die Trauer der Hinterbliebenen ein Ausdruck ihrer Liebe ist. Und so bunt wie im Leben, nimmt die Liebe im Todesfall eine sehr persönliche, individuelle Gestalt an. Liebe ist kein Stereotyp. Fritz Roth hat immer dafür plädiert, dass es dem Trauernden erlaubt und möglich sein muss, sich seiner Trauer gemäß zu verhalten. Liebe und auch Trauer verträgt keine Gängelei durch engherzige Gesetze oder Verwaltungsvorschriften.
Im Jahr 1993 kam Fritz Roth seinen Vorstellungen einen entscheidenden Schritt näher: er hatte die Möglichkeit, ein Anwesen im Bergischen Land zu kaufen. Es handelte sich um eine herrschaftliche Villa in einem großen Park mit altem Laubwald. Es lag auf einer Anhöhe, romantisch eingebettet in ein hügeliges Umfeld mit Bachlauf und Blick auf die ländliche Umgebung. Fritz Roth plante zweierlei: zum einen wollte er in der Villa die Räume einrichten, die er für das Abschiednehmen benötigte. Zum anderen wollte er den Park öffnen für Urnenbeisetzungen.
Es hat einige Jahre gedauert bis die Behörden hierfür eine Genehmigung erteilt haben: private Beisetzungsplätze waren im Gesetz nicht vorgesehen!
Fritz Roth blieb hartnäckig und hielt an seinen Überzeugungen fest. Er hat schließlich alle seine Vorstellungen verwirklicht und das Ergebnis ist beeindruckend: sowohl das Haus als auch der Garten sind Orte der Ruhe und Harmonie, sie atmen Frieden und Geborgenheit. Die Abschiedsräume, in denen die Angehörigen nach ihren zeitlichen Vorstellungen und Bedürfnissen mit dem Verstorbenen zusammen sein können, sind gemütlich eingerichtet und erinnern in keiner Weise an die oft abschreckend nüchternen Aufbewahrungsräume in Friedhofskapellen. Sie muten eher wie ein heimeliges Wohnzimmer an. Hier können die Angehörigen - wenn sie mögen - den Raum mit persönlichen Sachen des Verstorbenen schmücken, dessen Lieblingsmusik hören oder alte Fotos anschauen. Sollten Angehörige den Wunsch haben, bei der Einsargung oder Grablegung zu helfen, so ist auch dies möglich.
Wenn die Urne im Garten des Hauses beigesetzt werden soll, haben die Angehörigen zwei Wahlmöglichkeiten: es gibt zwei unterschiedlich gestaltete Gartenbereiche. Beiden gemeinsam ist das Gestaltungsprinzip des naturnahen Gartens, d.h., es gibt keine Beete oder schnurgerade gepflasterte Wege. Der Boden unter den Bäumen ist moosbewachsen, Farne und Efeu wachsen wild. Es gibt verschlungene schmale Pfade, nur wenig mit Schotter befestigt.
Der eine Teil des Gartens wird auch „kreativer Garten“ genannt und ist hier und da durch Skulpturen, Sitzecken o.ä. unterbrochen. Die Grabstellen werden individuell gestaltet mit einem Namensstein (Material und Form nach Wunsch), Blumen, Fotos und z.T. kleinen Skulpturen, die auf besondere Interessen der Verstorbenen hinweisen, wie beispielsweise eine Gitarre, ein Segelschiff oder eine geschnitzte Katzenfigur.
Der andere Teil des Gartens ist etwas schlichter gehalten. Die Namenssteine sind einheitlich aus Grauwacke gearbeitet.
Beim Spaziergang durch den Wald zieht ein ungewöhnliches Bauwerk alle Blicke auf sich: ein Kubus, der auf allen Außenseiten verspiegelt und durch eine Tür begehbar ist. Er wird „Haus der Klage“ genannt und beherbergt ein Kolumbarium. Jede Nische hat Platz für eine oder zwei Urnen, auf der Spiegeltür sind die Namen des Verstorbenen vermerkt.
Das Besondere an diesem Kolumbarium ist seine Funktion als vorübergehender Aufbewahrungsort für Urnen. Dies ist interessant für Hinterbliebene, die aufgrund ihrer seelischen Verfassung nach einem Todesfall nicht sofort entscheiden können oder wollen, wo die Urne letztendlich beigesetzt werden soll. Ist vielleicht der Wohnort der Kinder zweckmäßig oder eher der Geburtsort des Verstorbenen? Es mag auch sein, dass der nächste Angehörige sich später entschließt, an einen anderen Ort zu verziehen. Wenn er dann die Urne dort beisetzen möchte, ist ein Transport vom Kolumbarium aus problemlos möglich.
Sollte später keine Entscheidung über den endgültigen Verbleib der Urne getroffen werden, so wird die Urne - wenn gewünscht im Beisein der Angehörigen - geöffnet und die Asche in die Krypta im Fundamentbereich des Hauses der Klage eingebracht. Der Name des Verstorbenen wird danach auf einer Innenwand des Hauses vermerkt.
Der Innenraum des Hauses der Klage ist aus besonderen Akustiksteinen gebaut, die jedes auch noch so leise Geräusch hörbar machen. Er wird gelegentlich von Angehörigen genutzt, die hier Schmerz, Wut und Trauer artikulieren und so für sich über das Gehör erfahrbar machen.
Mit dem Abschluss der Bestattung ist die Arbeit des Bestattungshauses Pütz-Roth aber keinesfalls erledigt. Trauer ist je nach persönlicher Disposition und Lebensgeschichte der Hinterbliebenen ein langwieriger Prozess. Vielen fällt der Weg zurück ins Leben sehr schwer, oft genügt die liebevolle Hilfe von Familie und Freunden nicht. Manche Helfer ziehen sich nach anfänglichem Engagement zurück, weil unerwartete Reaktionen der Trauernden sie verunsichern.
Fritz Roth wollte die Hinterbliebenen in ihrem Trauerprozess unterstützen und ihnen die Neuorientierungerleichtern. Zu diesem Zweck organisieren ausgebildete Trauerbegleiter Trauergruppen, an denen Trauernde je nach Wunsch über Wochen oder auch Monate teilnehmen können. Ziel ist es, den Trauernden behutsam zu zeigen, dass sie trotz des erlittenen Traumas erste Schritte tun können und so allmählich wieder Zuversicht in ihre eigenen Fähigkeiten und Kräfte gewinnen.
Um diesen Prozess für die Betroffenen mit allen Sinnen erlebbar zu machen, ist im Keller der Villa ein „Weg“ mit verschiedenen Stationen eingerichtet worden. Am Anfang ist der Weg im wahren Sinn der Bedeutung „steinig“. Er beginnt in einem Raum, in den durch eine Luke eine große Menge von großformatigen Steinen eingefüllt wurde. Der Raum ist düster, die Steine sind Hindernisse, man hat Angst zu stolpern und bewegt sich so wenig wie nötig. Dieser Raum steht für das Gefühl, dass der Tod des Verstorbenen einen überrollt, ja den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Jede normale Bewegung ist unmöglich.
Der zweite Raum ist grell beleuchtet, der Boden eben und gut begehbar. An der linken Wand sind in blassen Grautönen die Namen von Menschen festgehalten. Auf der rechten Seite in einer Glasvitrine ist eine bunte Sammlung sehr unterschiedlicher Dinge ausgestellt: eine Brille, eine Kinokarte, ein Schmuckstück, eine getrocknete Blüte und vieles mehr. Dieser Raum ist das Sinnbild für den „fortgeschrittenen“ Trauernden: er geht und sieht zwar wieder, er funktioniert. Aber seine Wahrnehmung ist beschränkt auf den Verstorbenen und Dinge, die diesem gehört haben oder von ihm besonders geschätzt wurden.
Im dritten Raum besteht der Fußboden aus einer Spiegelplatte, auf der ein schmaler Steg mit einem fragilen Handlauf installiert ist. Das Licht ist schummrig. Es wird der Eindruck erweckt, man gehe über einen ungewissen Abgrund. Zwar wird der Steg als fester Grund erkannt, aber er sieht zweifelhaft aus, man traut ihm nicht. Dieses Bild charakterisiert eine weitere Stufe auf dem Weg zurück ins Leben: man macht zwar ein paar Schritte, aber die Angst lässt einen zaudern und zagen. Die Angst scheint unüberwindlich.
Durch die nächste Tür betritt man den Garten: das Licht fällt sanft durch das grüne Blätterdach der Bäume, man hört Vogelgezwitscher und spürt Sonne und Wind. Erleichterung macht sich breit, dass der Albtraum der Finsternis und der Unsicherheit hinter einem liegt. Dies soll den Wiedereintritt in das Leben symbolisieren.
Bei unserem abschließenden Spaziergang durch den Garten erfuhren wir, dass Fritz Roth ein weiteres Herzens-anliegen hatte: es war ihm wichtig, einer breiten Öffentlichkeit Wissen zu vermitteln über die Themen Sterben, Tod und Trauer. Hierzu gehört auch das Wissen um die eigene Sterblichkeit, das ein gelassenes und erfülltes Leben erleichtert.
Im Jahr 2012 wurde die Fritz-Roth-Stiftung gegründet, deren Ziel es ist, das Thema „Tod“ wieder in das Bewusstsein der Menschen zurückzuholen. Die Stiftung betreibt eine rege Öffentlichkeitsarbeit und organisiert Veranstaltungen, Vorträge, Tagungen und Seminare u.a. für Pflegepersonal, Lehrer, Seelsorger und auch Hospizmitarbeiter.
Am Ende des Tages waren wir alle tief beeindruckt von der Atmosphäre des Hauses und von der Haltung gegenüber Verstorbenen und Angehörigen, die dort gelebt wird.
Mich persönlich hat sehr berührt, welche Kräfte tiefe Überzeugungen freisetzen. Sie haben Fritz Roth in die Lage versetzt, dieses bewundernswerte Projekt gegen viele Widrigkeiten in die Realität umzusetzen. Er hat damit ein wichtiges Thema aus der Tabuzone geholt und es dahin geführt, wohin es gehört: mitten ins Leben der Menschen.
Margrit Wallek-Heldtke